Hintergründe
Tiefgründig und eigenwillig

Die Pianistin Hélène Grimaud im Porträt

Hélène Grimaud © Mat Hennek
© Mat Hennek

Wer sie am Klavier erlebt, ist unweigerlich fasziniert: Hélène Grimaud spielt leidenschaftlich und zart, facettenreich, poetisch. Sie ist eine Meisterin des Rubato und der Phrasierung. Sie musiziert körperlich, atmet durch Musik, kultiviert Ekstase in Tönen.

Woher kommt diese Intensität ihres Spiels? Die französische Pianistin bezeichnete sich einmal als „emotional sponge“; sie ist äußerst sensibel, saugt alles um sich herum auf, gibt diese Eindrücke und Energie dann beim Musizieren wieder an ihr Publikum zurück. „Ein Konzert muss ein emotionales Ereignis sein, sonst braucht man es nicht“, sagt sie. Hélène Grimauds inneres Erleben ist einzigartig und sie versteht es, die Menschen, die ihr zuhören, in ihre wundersame Gefühlswelt zu entführen.

„But then music came along“

Schon als Kind war Hélène anders. Sie litt an ADHS – oder, wie sie es nennt, einem „surplus of energy“. Ihre Eltern ließen sie diverse Sportarten ausprobieren, um den Energieüberschuss in kontrollierte Bahnen zu lenken. Ohne Erfolg. „But then music came along“: Erst Musik konnte die Sechsjährige begeistern und innerlich zur Ruhe bringen. Tief tauchte sie ein in diese komplexe Materie, deren spezielle Ordnung ganz ihrem Wesen entspricht, hat sie doch nach eigener Aussage einen Symmetriewahn. Und eine gewisse Obsession findet Hélène Grimaud auch notwendig: Wer Musik mache, finde sich in einer schizophrenen Situation, denn beim einsamen Üben könne man sich künstlerisch entwickeln – sich ausdrücken aber nur, während man Musik mit anderen teile.

Hélène Grimaud © Mat Hennek
Hélène Grimaud © Mat Hennek

Hélènes Klavierobsession trug Früchte: Sie bekam Unterricht in Aix-en-Provence und in Marseille bei Pierre Barbizet. Bereits mit dreizehn Jahren wurde sie am Pariser Konservatorium aufgenommen, wo sie bald für ihren eigenen Kopf und ihre Sturheit berüchtigt war. Sie diskutierte durchsetzungsstark das zu lernende Repertoire und zeigte sich wenig kompromissbereit. Doch ihr Studium schloss die eigenwillige junge Pianistin mit einem ersten Preis ab, und ihre erste Platte mit dem zweiten Klavierkonzert von Sergej Rachmaninow wurde prompt ausgezeichnet. Wenig später lud Daniel Barenboim sie zur Zusammenarbeit mit dem Orchestre de Paris ein: Hélène Grimaud machte sich in Frankreichs Kulturszene einen Namen.

Schicksalshafte Begegnung

Dennoch fühlte sie sich in ihrem Heimatland nie ganz angenommen. Erst in den USA überraschten Grimauds Eigenheiten niemanden, erst hier konnte sie ihrem unkonventionellen Stil frei nachgehen. Das spürte sie schon bei einer Tournee und zog bald darauf auf die andere Seite des Atlantiks. In der Stadt Tallahassee dann hatte sie mit Anfang zwanzig eine Begegnung, die ihr Leben für immer verändern sollte: Sie lernte die Wölfin Alawa kennen, die sich ihr erstaunlicherweise gleich vertrauensvoll näherte. Sofort bestand eine tiefe Verbindung zwischen dem Tier und der außergewöhnlichen jungen Frau. Fortan widmete sich Grimaud auch der Erforschung und dem Schutz der Wölfe, eröffnete 1999 ihr Wolf Conservation Center, in dem sie ein Rudel hält und Schulklassen unterrichtet. Und wenn Grimaud begeistert von ihren Wölfen erzählt, wirkt es fast, als gebe es nichts anderes für sie: Sie lässt sich mit jeder Faser und ihrem ganzen Sein auf ihre Leidenschaft ein – mit der gleichen Hingabe, mit der sie auch am Flügel sitzt.

Freitag, 10. November 2023 | 19:30 Uhr | HCC, Kuppelsaal
London Philharmonic Orchestra

Edward Gardner | Hélène Grimaud

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Donnerstag, 13. Juni 2024 | 19:30 Uhr | NDR Konzerthaus, Großer Sendesaal
Hélène Grimaud

Camerata Salzburg | Giovanni Guzzo

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Skandal und Widerstand

Heute hat die Ausnahmepianistin ihren Platz gefunden: Hélène Grimaud wird weltweit geschätzt und mit Preisen gewürdigt; sie arbeitet mit den international größten Orchestern und Kunstschaffenden zusammen und ist in allen Konzertsälen der Welt willkommen. Zugleich bleibt sie sich in jeder Situation treu, weiß genau, was sie will und braucht – und was nicht. Diese Klarheit bringt auch Konflikte mit sich: Die regelmäßige Zusammenarbeit mit Claudio Abbado beispielsweise beendete sie 2011 nach einem Streit über die passende Kadenz zu Mozarts 23. Klavierkonzert. Ein Skandal! Und auch die Pläne für ihr jüngstes Album stießen auf einigen Widerstand: Vokalwerke des von Grimaud sehr geschätzten ukrainischen Komponisten Valentin Silvestrov, dem sie bereits 2020 das Album The Messenger widmete. Damals kombinierte sie Klavierwerke von Silvestrov und Mozart, die sie als gleichermaßen durchsichtig und transzendental empfindet. Nun wollte sie dem Ukrainer und seiner sich ganz in Stille versenkenden Musik allein ein Album widmen – ein ungewöhnliches, vielleicht auch riskantes Konzept. Doch sie ließ sich nicht von ihren Überzeugungen abbringen: Silent Songs, das sie gemeinsam mit dem Bariton Konstantin Krimmel einspielte, erschien im März 2023.

Was die Leute über sie denken, interessiert Hélène Grimaud nicht. Auch Äußerlichkeiten bedeuten ihr nichts, sie sieht ihre Schönheit eher als Hindernis und verachtet jede Art von Künstlichkeit. Treffend bringt es der Titel der Dokumentation auf den Punkt, die 2023 über die Künstlerin erscheint: Between the Notes. Wichtig ist nur, was sich zwischen den Noten befindet, hinter dem Klang, tief unter der Oberfläche. Ist diese Einstellung radikal? Möglich. Ist sie unangepasst, unbeirrbar, unnachgiebig, unbequem? Ja. Und genau das ist es, was Hélène Grimaud so unverwechselbar macht – und so einnehmend.